Den Beleidigern gern verzeihen

Impuls von Pater Jean-Sébastien Charrière, gehalten in der Klosterkirche am 1. Mai 2016

Papst Franziskus hat dieses Jahr als Jahr der Barmherzigkeit verkündet. In diesem Zusammenhang haben wir am ersten Fastensonntag und dann an den folgenden Sonntagen begonnen, über die 7 leiblichen und 7 geistlichen Werke der Barmherzigkeit nachzudenken. Heute, als elftes Treffen, meditieren wir über das fünfte geistliche Werk der Barmherzigkeit: "den Beleidigern gern verzeihen".

Sicher sehnen wir uns alle nach Harmonie, Liebe und Frieden. Die Geschichte sowie unser eigenes Lebens zeigen uns aber immer wieder wie Ängste, Unwissenheit und Missverständnis zu Streit, leiblicher und psychologischer Gewalt führen können. Missbrauch, Erpressung, Manipulation, Terrorismus und Krieg sind dazu zu zählen. Die Verletzungen, Wunden und Narben, die daraus entstehen, prägen - auch gegen unseren eigenen Willen - unser Verhalten. Bewusst oder unbewusst verletzen wir oder werden wir verletzt. Wie oft könnten wir, wie Paulus in seinem Brief an die Römer, bekennen: "ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will" (Röm 7,19).

Um nicht an der Vergangenheit hängen zu bleiben und eingekerkert zu werden in unserer falschen Taten, brauchen wir Vergebung. Dies ist auch notwendig, um vergeben zu können.
Aber wenn wir missbraucht, beleidigt oder tief verletzt worden sind, wissen wir, wie schwer es ist, in Wahrheit zu verzeihen. "Ich verzeihe dir" ist leichter gesagt als erlebt! Es genügt, sich nur daran zu erinnern, was wir verzeihen wollen, um wieder in der Verletzung und dem Ringen der negativen Gefühle gefangen zu werden. Am liebsten würden wir oft dem Talionsgesetz des Buches Exodus folgen: "Auge um Auge, Zahn um Zahn" (Ex 21,24). Dieses Gesetz ist aber nicht befriedigend. Gandhi sagte mit Humor: "so wird die Welt blind und zahnlos sein". Tatsächlich mit so einer Gerechtigkeit würde der Teufelskreis der Rache und der Gewalt am Ende alles zerstören.

Ohne die Vergebung, die diesen Teufelskreis aufbricht, ist auf längere Zeit keine Zukunft möglich. Deshalb ist die Frage der Vergebung auch so wesentlich im Vater Unser: "vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern" (cf Mt 6,12 ; Lk 11,3). Es ist die einzige Aussage im ganzen Gebet, in dem wir uns engagieren und verpflichten: "wie auch wir vergeben". Vergebung ist Bedingung des Lebens und des Empfanges des Heils.

In seiner Theologie weist Paulus darauf hin, dass wir alle in unserer Einzigartigkeit und unverwechselbaren Fähigkeiten verbunden sind und einen einzigen Körper bilden: den Leib Christi (cf 1Kor 12, 1-31). "Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm" sagt er (v. 26). Zum Beispiel, wenn meine Nieren krank sind, wird mein Blut nicht mehr richtig gereinigt und der ganze Körper wird dadurch vergiftet. Es wäre aber ein Unsinn, deswegen gegen meine Nieren zu handeln. Was meinen Gesundheitszustand noch weiter erschweren würde. Viel mehr brauchen die kranken Organe Aufmerksamkeit und Pflege, um zu genesen. Gleich geht es mit unseren Schuldigern. Wenn ich nicht "Böses mit Bösem vergelte" (cf Römer 12,9-21) oder wenn ich für sie bete, nehme ich schon wesentlich teil am Heilungsprozess des Ganzen.

Ich glaube aber nicht, dass wir selber vergeben können. Wie gesagt: Es genügt, sich nur daran zu erinnern, was wir verzeihen wollen, um wieder in der Verletzung und dem Ringen der negativen Gefühle gefangen zu werden. Da sollten wir weiter der Lehre des Paulus folgen: "Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute" (Röm 12,21). Indem wir uns zu Gott - der das Gute ist - wenden, geschieht Heilung und Versöhnung in und durch uns. Gott ist Liebe, Versöhnung und Einheit. Seine Gegenwart heilt und verändert uns.