Die Unwissenden lehren

Impuls von Pater Daniel Emmenegger , gehalten in der Klosterkirche am 3. April 2016

Liebe Besucherinnen und Besucher unserer Klosterkirche

Wir heissen Sie an dieser heiligen Stätte ganz herzlich willkommen!
Für die Sonntage der Fasten- und Osterzeit haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, anlässlich des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit uns ein paar Gedanken zu den sogenannten Werken der Barmherzigkeit zu machen. Heute geht es um ein Werk, das uns in eine Welt voll spannender Fragen führt. Auch mit diesem Werk können wir anderen Gutes tun. Es nennt sich: Die Unwissenden lehren.

Es geht also um ein Wissen und darum, dass dieses Wissen von Wissenden an Nichtwissende weitergegeben wird. Klingt kompliziert, ist es aber nicht. Um zu verstehen, machen wir eine kleine Zeitreise ins 19. Jahrhundert. Damals lebte und wirkte im schönen Emmental der reformierte Pfarrer und Schriftsteller Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf. In dieser Zeit wurde der heutige Begriff, unsere heutige Vorstellung von dem, was wir "Wissenschaft" nennen, entscheidend geprägt. Auch in dieser Wissenschaft geht es um ein Wissen. Ein Wissen, welches den Glauben herausfordert, ihm bisweilen zu widersprechen scheint. Ihnen allen ist sicher die eine oder andere, bis heute diskutierte Frage bekannt. Zum Beispiel: Entstand die Erde so, wie es die Bibel beschreibt oder etwa auf ganz andere Weise, wie es von der Naturwissenschaft gezeichnet wird? Oder: Wie kann die Bibel von einem grossen und mächtigen Volk Israel unter den Königen David und Salomo sprechen, während die Historiker kaum Spuren davon finden?

Solche Fragen stellte man sich schon zu Gotthelfs Zeiten – und dies nicht nur unter Gelehrten und Wissenschaftlern, sondern auch im einfachen emmentaler Landvolk. Gotthelf machte als Pfarrer dabei die Beobachtung, dass der eine oder andere aufgrund dieser Fragen den Glauben an das, was in der Bibel steht, aufgab. Man meinte es ja nun besser zu wissen.

Gotthelf hält das für unglaublich naiv. In einem seiner Bücher verschafft er denn auch seinem Ärger Luft und schreibt:
Man sagt die Zeit des blinden Glaubens sei vorbei! Tröpfe sinds, die es sagen. Ja, de Hans Joggi glaubt nicht mehr, was in der Bibel steht, und de Sämi spöttelt über alles, was der Pfarrer sagt – de Hans Joggi und de Sämi sind doch jetzt über den blinden Glauben hinaus! Ohä, der blinde Glaube ist noch da; nur schenkt man ihn jetzt nicht mehr der Bibel oder dem Pfarrer. Hans Joggi hat ihn der Zeitung geschenkt, bald der einen, bald der andern, und was die sagt, und wenn sie redet wie ein Hornvieh und lügt wie der Teufel selbst, so ist dieses wahr und ewig wahr... Und de Sämi hat seinen Glauben einem Dokter geschenkt, und was dieser ihm sagt, das glaubt er wie das Evangelium, und was dieser ihn zu tun heisst, das vollbringt er in unbedingtem Gehorsam.

Wenn wir fragen, weshalb Gotthelf mit der naiven, besserwisserischen Haltung eines Hans Joggi oder eines Sämi nichts anfangen kann, dann lassen sich hierzu zwei Gründe nennen:

1. Zunächst einmal verkennen sowohl Hans Joggi als auch der Sämi die besondere Eigenart der Bibel. Sie sehen nicht, dass es der Bibel um eine andere Art von Wissen geht, als den Zeitungen oder einem Wissenschaftler; und dass sie von diesem Wissen auf andere Weise spricht als es Zeitung oder Wissenschaftler tun würden. Die Bibel ist weder ein Zeitungsbericht, noch eine wissenschaftliche Abhandlung im modernen Sinn.

2. Als zweites macht sich Gotthelf als Pfarrer natürlich ernsthaft sorgen um Hans Joggi und Sämi. Denn wenn sie die Bibel über Bord werfen, entfernen sie sich von Christus. Damit werden sie aber anfällig für alle möglichen Irrtümer, für Betrüger und Scharlatane. So meint dann Gotthelf vom Hans Joggi und vom Sämi:
Wenn Zeitungen und Dokter ihnen verleidet sind, so hängen sie ihren Glauben an Wahrsager und Zeichendeuter, und dies umso fester, je weiter sie von Christus entfernt sind.

Diese Aussage ist – nebenbei erwähnt – von nicht zu unterschätzender Aktualität!

Gotthelf bringt das Problem prägnant auf den Punkt:
Der Glaube ist dem Menschen angeboren; scheint aber Gottes Sonne nicht hinein, so spuckt der Teufel darein.

Gottes Sonne ist Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Er ist das Licht, durch welches das Leben von uns Menschen hell wird. In Christus finden wir Sinn und Ziel unseres Daseins, ja des Daseins der gesamten Schöpfung, welche die Wissenschaft erforscht. – Das ist der Kern unseres Glaubens. Das ist unser Bekenntnis. Das ist das Wissen, welches die Kirche seit 2000 Jahren bezeugt im verkündeten Wort der Predigt, in ihrer Aufmerksamkeit um den Menschen, besonders um die Armen und im gefeierten Wort ihrer Liturgie – so wie jetzt dann gleich hier in der Klosterkirche, wenn wir gemeinsam die Vesper beten werden. Kein Terror, keine Gewalt, kein Skandal, keine menschliche Schwäche, keine sogenannte "Aufklärung", keine Wissenschaft und auch keine säkulare Gesellschaft wird uns je daran hindern können!

So verstehen wir es als ein Werk der Barmherzigkeit, allen Menschen, die es noch nicht wissen oder es wieder vergessen haben, unabhängig ihrer Herkunft, unabhängig ihrer Bildung, unabhängig ihrer sozialen Stellung und auch unabhängig ihrer Religion unaufhörlich zu sagen, ja sie zu lehren: Hinter deinem Leben steht einer, der will, dass du bist! Seine Kraft ist die göttliche Liebe. Nichts: "Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur" (Röm 8,38f.) vermag dich von ihm zu trennen, solange du es nicht willst!

Wenn du ihm – Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen – begegnen willst, dann lies täglich in der Bibel! Sei achtsam für die Freuden und Leiden der Menschen um dich herum! Nimm am Gebet der Kirche teil – es ist eine Schule für dein eigenes Beten! Lass es zu, dass sich Christus dir in den Sakramenten schenken kann – grundlegend in der Taufe und in der Firmung; vergebend in der heiligen Beicht; belebend und stärkend in der heiligen Eucharistie; heilend in Zeiten der Krankheit durch das heilige Öl; die Verbindung zwischen Mann und Frau heiligend im Bund der Ehe.

Und je mehr du selber von Glaube und Hoffnung erfüllt bist, dann sei bereit, "jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die (dich) erfüllt" (1 Petr 3,15); sei bereit, die Unwissenden zu lehren!

Amen.