Gefangene besuchen
Impuls von Pater Daniel Emmenegger, gehalten in der Klosterkirche am 13. März 2016
Liebe Besucherinnen und Besucher unserer Klosterkirche
Wir heissen Sie an dieser heiligen Stätte ganz herzlich willkommen!
Wie Sie vielleicht wissen, hat Papst Franziskus ein heiliges Jahr ausgerufen, und dieses unter das – ich möchte sagen: schwierige! – Thema der Barmherzigkeit gestellt. In Einsiedeln haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, dieses Thema an den Sonntagen der Fasten- und Osterzeit in kurzen Katechesen aufzugreifen. Wir tun dies, in dem wir die sogenannten "Werke der Barmherzigkeit" etwas unter die Lupe nehmen. Dazu gehört auch das Werk: "Gefangene besuchen", um das es jetzt geht. Ich möchte gerne versuchen, Ihnen ein paar Gedanken mit auf den Weg zu geben.
Unter "Gefangnen" verstehe ich im Folgenden in erster Linie Menschen, die im Gefängnis sind. Beginnen wir unsere Überlegungen mit der Frage, aus welchen Gründen denn jemand ins Gefängnis kommen kann.
Ich denke, wir können mindestens vier Gründe nennen. Wenn Ihnen noch weitere Gründe in den Sinn kommen, so können Sie die Liste für sich selber ergänzen.
Ein erster Grund ist naheliegend: Man kommt ins Gefängnis, weil man ein Delikt begangen hat. Es kann sich dabei um eher leichte, aber auch um ganz schwere Delikte, um eigentliche Verbrechen handeln.
Dann gibt es aber auch die Möglichkeit, dass man unschuldig im Gefängnis sitzt. Der Grund ist vielleicht in einem Missverständnis oder in böser Absicht, wie Verleumdung zu suchen.
Etwas komplexer ist die folgende Situation: Man kommt zwar ins Gefängnis, weil man objektiv das Gesetzt übertreten hat. Das Problem ist hier aber nicht die Übertretung des Gesetzes, sondern das Gesetz selber, welches ungerecht und diskriminierend, vielleicht sogar menschenverachtend ist. Hier sitzt man im Gefängnis, weil man diese Ungerechtigkeiten, die Diskriminierung und die Menschenverachtung offen anprangert. Weltweit gibt es immer wieder Länder, in denen das vorkommt. Wir dürfen auch nie vergessen, dass dies auch inmitten von Europa vor noch nicht einmal hundert Jahren der Fall war. Und wir dürfen nicht naiv sein, zu glauben, so etwas käme bei uns nie mehr vor!
Es gibt noch einen vierten Grund, weshalb man ins Gefängnis kommen kann. Aber diesen Grund können nur im glaubenden Blick auf das Kreuz verstehen. Es geht um diese geheimnisvolle Tatsache, dass die Liebe, die von Gott kommt, in der Welt auf Widerstand, ja mitunter gar auf Verfolgung stösst – und dies umso mehr, je reiner sie sich zeigt. Jesus sagt im Evangelium allen, die ihm nachfolgen wollen deutsch und deutlich: "Man wird euch festnehmen und euch verfolgen. Man wird euch um meines Namens willen den Gerichten übergeben, ins Gefängnis werfen und vor Könige und Statthalter bringen" (Lk 21,12). Dass sich dieses Wort oft bewahrheitet hat, zeigen uns Bibel und Kirchengeschichte zuhauf, und es bestätigt sich auch heute. Man kann also auch um des Glaubens willen im Gefängnis landen. – Hier müssen wir aber ganz gut aufpassen, auch aus hochaktuellen Gründen: Es geht um den Glauben, der Liebe ist und nicht um irgendwelchen religiösen Fundamentalismus oder Fanatismus, den man fälschlicherweise oft "Glaube" nennt!
Fassen wir diese vier Gründe nochmals kurz zusammen:
Erstens kann man ins Gefängnis kommen, weil man tatsächlich ein Delikt begangen hat.
Zweitens kann man unschuldig ins Gefängnis kommen.
Drittens kann man ins Gefängnis kommen, weil man sich gegen ungerechte Gesetze oder gegen einen ungerechten Staat wehrt.
Schliesslich kann man ins Gefängnis kommen, wo die Botschaft des Evangeliums nicht gerne gehört wird.
Und nun lautet die Weisung ebendieses Evangeliums, dass man die Gefangenen besuchen, dass man sich ihrer annehmen soll. Dabei müssen wir unbedingt beachten, dass hier bei den Gefangenen nicht unterschieden wird, wie wir das gerade getan haben. Es ist also keineswegs so, dass man sich nur um die kümmern soll, die unschuldig im Gefängnis sitzen oder die um des Glaubens willen inhaftiert wurden. Nein, alle sind gemeint – auch die, die wirklich Schuld auf sich geladen haben; und zwar bis hin zu den grössten Verbrechern.
Warum das? – Antwort gibt uns auch hier der glaubende Blick auf das Kreuz. Und dieser sagt uns: Die Liebe Gottes ist grösser als das grösste Verbrechen, dessen ein Mensch überhaupt fähig sein kann. Für alle, die zum Glauben kommen, ergibt sich von hierher folgender Grundsatz: Hasse die Sünde, aber liebe den Sünder!
Dieser Grundsatz übersteigt unsere menschlichen Kräfte. Man kann ihn von uns Menschen daher auch nicht einfach so einfordern. Aber man kann zumindest versuchen, sich an ihm zu orientieren. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass der Glaubende nie alleine dasteht, sondern Glied eines grösseren Ganzen, nämlich der Kirche ist. Und das Haupt der Kirche ist Christus. Wo also der Einzelne mit seinen Kräften an Grenzen kommt, findet er in anderen Gliedern ergänzende Kräfte. Und alles Mühen um das Gute wird letztlich durch Christus vollendet.
Die erwähnte "Liebe zum Sünder" – auch zu einem, der im Gefängnis sitzt – darf nun aber nicht so verstanden werden, als handelte es sich hier um schwächliche Nachsichtigkeit oder um ein diffuses "Man-muss-zu-allen-lieb-sein". Aktuell zeigt uns dies ganz konkret unser Papst Franziskus in einzelnen seiner Handlungen. Während seines Besuchs in Kalabrien am 21. Juni 2014 prangerte er in seiner Predigt die Verbrechen der in dieser Gegend sehr präsenten und mächtigen Mafia an – ähnlich, wie es schon in den 80er-Jahren Papst Johannes-Paul II. getan hatte. Worin Franziskus seinen Vorgänger allerdings übertraf, war in der expliziten Aussage, dass die Verantwortlichen dieser Verbrechen aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen, dass sie exkommuniziert seien. Das bedeutet unter anderem, dass sie vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen sind. Für viele Mafiosi ist das ein hartes Los, handelt es ich bei ihnen doch grösstenteils um sehr "religiöse" und "fromme" Menschen, auch wenn ihr angeblich "katholischer" Glaube eine Verkehrung und Verdrehung des Glaubens der Kirche ist.
Vergangene Woche strahlte das Schweizer Fernsehen einen Dokumentarfilm über diese Problematik aus. In einer Szene dieses Films war ein Hochsicherheitsgefängnis zu sehen, in welchem 70% aller Gefangenen Mitglieder einer Mafia-Organisation sind. Der Gefängnisseelsorger – ein katholischer Priester – bekundet offenbar Mühe, nach der expliziten Exkommunikation durch den Papst, den Mafia-Mitgliedern die Sakramente, insbesondere die Kommunion zu verweigern. Im Film meint er, er könne nicht den einen die Sakramente verweigern und sie anderen zugestehen. Es sei nicht die Aufgabe des Priesters oder der Kirche im Gefängnis über jemanden zu richten. Sie seien dazu da, Menschen durch das Leben zu begleiten, auch Mitglieder der Mafia.
Das tönt ja eigentlich ganz gut. Und selbstverständlich steht es auch mir nicht zu, über die Haltung dieses Priesters zu urteilen. Ich weiss beim besten Willen nicht, wie ich mich an seiner Stelle verhalten würde. Aber Folgendes dürfen wir hier trotzdem festhalten: Die Exkommunikation mit all ihren Konsequenzen ist im Letzten ein Akt der Barmherzigkeit seitens der Kirche gegenüber diesen Verbrechern; sie ist ein Ausdruck der "Liebe zum Sünder". Denn das Ziel der Exkommunikation ist, wie es schon die Bibel anzeigt, nicht der bleibende Ausschluss dessen, der schuldig geworden ist; das Ziel ist vielmehr, dass die zurecht Ausgeschlossenen zur Besinnung kommen, ihre verkehrten Handlungen aufgeben und in die Gemeinschaft der Kirche zurückkehren. So gesehen wird man fragen dürfen, ob die scheinbar "grosszügige" Haltung des Gefängnisseelsorgers gegenüber den gefangenen Mafiosi letztlich nicht zutiefst unbarmherzig ist, weil er ihnen die Möglichkeit nimmt, sich ernsthaft zu besinnen.
Wir haben nun in sehr knapper Zeit etwas über das Werk der Barmherzigkeit "Gefangene besuchen" nachgedacht. Lassen Sie mich die wesentlichen Aussagen nochmals auf den Punkt bringen:
1. Mit den Gefangenen sind alle gemeint, auch die grössten Verbrecher.
2. Weil die Liebe Gottes grösser und mächtiger ist als das grösste Verbrechen, dessen ein Mensch fähig ist, dürfen, ja müssen wir bei jedem Menschen immer damit rechnen, dass er sich zu einem Besseren bekehren kann.
3. Es gilt das Prinzip: Hasse die Sünde, aber liebe den Sünder.
4. Mit der Liebe zum Sünder ist keine leichtfertige Nachsichtigkeit gemeint. Auch eine Bestrafung wie die Exkommunikation kann Ausdruck der Liebe sein.
Wenn wir das begriffen haben, dann müssen wir uns jetzt nicht gleich in Gefängnisse begeben, um im eigentlichen Sinn Gefangene zu besuchen. Es reicht schon, wenn wir davon generell unsere Haltung gegenüber unseren Mitmenschen beeinflussen lassen. Vielleicht mindert es auch unsere Empörung, wenn wir in der Zeitung negatives über andere Menschen lesen, weil wir wissen, dass uns ein letztes Urteil gar nicht zusteht – das ist Sache Gottes! Und wenn wir wieder einmal über Gesetzesvorlagen abstimmen müssen, in denen es um den Umgang mit schuldig gewordenen Menschen geht, werden wir vielleicht ein kritisches Auge darauf werfen, ob diese Vorlagen mit der Möglichkeit rechnen, dass ein Mensch sich zum Besseren bekehren kann.
In wenigen Minuten beginnt nun die Vesper mit Aussetzung des Allerheiligsten und Prozession zur Gnadenkapelle, wozu Sie alle herzlich eingeladen sind.
Ich möchte schliessen mit einem kurzen Gebet:
Barmherziger Gott.
Du nimmst die Sünde ernst,
aber du lässt uns die Möglichkeit zur Umkehr.
Du verurteilst unsere Verfehlungen,
aber du lädst uns ein zur einem neuen Anfang.
Wir danken dir, dass du barmherzig bist.
Hilf uns, dass deine Barmherzigkeit durch unser Leben auch für andere sichtbar wird.
Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.
Amen.
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