Kranke besuchen
Impuls von Pater Mauritius Honegger, gehalten in der Klosterkirche am 6. März 2016
Liebe Besucherinnen und Besucher unserer Klosterkirche,
Das Werk der Barmherzigkeit, das wir heute betrachten wollen, heisst "Kranke besuchen".
Hören wir zunächst – sozusagen als Kontrastfolie – ein Zitat des stoischen Philosophen Epiktet, der im ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus lebte:
"Barmherzigkeit gehört zu den schlechten Angewohnheiten und Lastern der Seele: barmherzig ist der dumme und leichtfertige Mensch. Der Weise lässt sich durch niemanden rühren und verzeiht keinem eine begangene Schuld. Es steht einem starken Menschen nicht an, sich von Bitten überzeugen und von einer gerechten Strenge abbringen zu lassen." – Soweit das Zitat des stoischen Philosophen Epiktet.
Dieses Zitat spiegelt die vorherrschende Meinung in der antiken römischen Gesellschaft wieder. Die stoische Philosophie war weit verbreitet und hatte Vertreter in allen gesellschaftlichen Schichten: Epiktet selber war ein Sklave, aber auch angesehene Senatoren wie Cicero und Pompeius, Edelmänner wie Seneca und sogar der Kaiser Marcus Aurelius lebten nach den Prinzipien der stoischen Philosophie. Die stoische Lehre strebt vor allem zu Selbstbeherrschung und Tugend.
Die Stoa war aber keine atheistische Lehre. Die Stoiker glaubten auch an eine Gottheit. Und was diese Gottheit auszeichnete, war die sogenannte Ataraxía, die Unerschütterlichkeit. Der stoische Gott lässt sich von nichts und niemand erschüttern. Er ist über die Dinge der Welt erhaben. Er kann nicht leiden und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Die Stoiker bemühten sich, wie ihr Gott zu werden. Sie strebten nach Gemütsruhe und Ausgeglichenheit. Sie hatten beobachtet, dass Leidenschaften wie Wut und Hass aber auch Verliebtheit und Begierde die Menschen zu unvernünftigem, ja schädlichem Verhalten verleiten. Darum wollten sie sich möglichst wenig von Gefühlen und Leidenschaften bestimmen lassen. Das stoische Ideal war ein vernunftbestimmtes, geordnetes Leben. Sich aus Mitgefühl zu einer Tat bewegen zu lassen, empfanden sie als eine Schwäche und bedeutete einen Mangel an Selbstbeherrschung, was vielleicht für eine Frau noch entschuldbar gewesen wäre. Aber ganz sicher nicht für den wahren Philosophen.
Wenn stoische Philosophen das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört haben, muss er ihnen dumm und schwächlich vorgekommen sein. Wie unvernünftig war es doch, dass sich der Samariter um den verletzten Mann am Strassenrand kümmert. Ein wahrhaft Weiser hätte niemals dem Impuls des Mitleids nachgegeben und sich selbst in Gefahr gebracht. Das war ein ganz klarer Fall dafür, dass Leidenschaften wie Mitleid die Menschen zu unvernünftigem Verhalten verleiten.
Die Ausbreitung des jungen Christentums geschah in einer Gesellschaft, die vom stoischen Denken geprägt war. Wie total absurd muss es in den Ohren ihrer Zeitgenossen geklungen haben, dass die Christen einen Gott anbeteten, der Mitleid mit den Menschen empfindet. Niemand wäre damals auch nur auf die Idee gekommen, einen Gott als mitfühlsam zu beschreiben. Mitgefühl war der Inbegriff von Schwäche und ein Mangel an Selbstbeherrschung.
Wie die Anhänger der stoischen Lehre darum bemüht waren, ihren Gott nachzuahmen, so waren es auch die Christen. Christ sein bedeutete für sie, den Massstab für ihr Handeln an Jesus Christus zu nehmen, den sie als Gott verehrten. Schon im Alten Testament hat sich Gott als ein barmherziger und gnädiger Gott geoffenbart. Jesus Christus hat schliesslich völlig unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Barmherzigkeit und Liebe das innerste Wesen Gottes ausmachen.
Nicht nur weil Jesus selbst sich vom Leid der Menschen berühren liess und barmherzig an ihnen handelte, sollten die Christen Mitleid empfinden mit den Leidenden und ihnen helfen. Sondern auch weil Jesus im Gleichnis vom letzten Gericht am Ende des Matthäusevangeliums ausdrücklich gesagt hat, worauf es ankommt und nach welchen Kriterien die Menschen am Ende beurteilt werden:
"Ihr auf der rechten Seite seid von meinem Vater gesegnet; euch gehört das Himmelreich. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben. Ich war krank und ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder krank gesehen und haben dir geholfen? Darauf wird der Richter antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."
Nach diesem Gleichnis kommt es also ganz besonders darauf an, ob wir zu unseren Mitmenschen gut und barmherzig waren. Die sieben genannten Werke sind Beispiele und wollen Anregung sein, dass auch wir unseren Mitmenschen Gutes tun.
Heute wollen wir also besonders das Werk "Kranke besuchen" betrachten.
Schon das Alte Testament spricht an verschiedenen Stellen vom Krankenbesuch. Der fromme Jude Ijob wird eines Tages von allen möglichen Krankheiten und Schicksalsschlägen getroffen und verliert praktisch seine ganze Existenz. In dieser Situation kommen seine Freunde zu ihm und verbringen Zeit mit ihm. Es geht nicht darum, dass sie ihn heilen könnten. Sie wissen kein Mittel, um ihm Linderung zu verschaffen. Aber ihr Besuch ist trotzdem wichtig: Sie lassen Ijob spüren, dass er in dieser schweren Stunde seines Lebens nicht allein ist. Die Freunde hören geduldig zu, wenn Ijob ihnen sein Leid klagt. Sie sprechen ihm Trost zu und zeigen ihre Anteilnahme. Das ist vielleicht das Wichtigste: Den Kranken spüren zu lassen, dass uns seine Situation nicht einfach gleichgültig ist, dass wir nicht wie ein stoischer Philosoph unberührt bleiben, sondern dass sein Leid und Schmerz uns bewegt, dass wir mit ihm hoffen, dass es ihm bald wieder besser geht, und wir an ihn denken und für ihn beten.
Und im Neuen Testament sind Jesus selbst und die Apostel, die in seinem Auftrag handeln, Vorbilder für die Sorge um die Kranken. Darum hat sich in der Tradition der Kirche das Sakrament der Krankensalbung entwickelt, das auf eine Stelle im Jakobsbrief Bezug nimmt: "Ist einer von euch krank, dann rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich; sie sollen Gebete über ihn sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben".
Dass die Kirche das Sakrament der Krankensalbung kennt, zeigt, wie wichtig und wertvoll es ist, Kranken in ihrer Not beizustehen. Nicht nur ein Priester, der die Krankensalbung spendet, bringt die Liebe Gottes zu den Kranken, sondern jede und jeder von uns kann einem Kranken Trost und Anteilnahme zeigen, ihm etwas Licht und Freude in sein Krankenzimmer bringen und ihm Mut und Hoffnung schenken.
Ein Klinikseelsorger sagte einmal: Am Abend eines Tages in der Klinik wisse er manchmal nicht, wer mehr beschenkt wurde: Die Kranken oder er als Seelsorger.
Nach einem schweren Unfall oder bei einer langwierigen Krankheit kommen bei vielen Menschen alte Sicherheiten ins Wanken. Auf das, was sie sich bisher verlassen haben, können sie jetzt nicht mehr bauen. Man sagt so schnell: Die Gesundheit ist das wichtigste. Was passiert aber, wenn man nicht mehr gesund ist? Hat man dann das wichtigste verloren? Das bedeutet oft eine Krisensituation für einen Menschen. Einige geraten in grosse Verzweiflung. Für niemand ist eine Krankheit leicht. Aber manchmal kann eine Krise auch ein Wendepunk sein, in dem ich merke: Auf was ich mich bisher verlassen habe, das trägt jetzt nicht mehr. Und vielleicht ist es eine Chance, im Vertrauen auf Gott zu wachsen.
Nicht nur der Kranke wird beschenkt, wenn er Besuch bekommt. Auch der Besucher oder die Besucherin können beschenkt werden, wenn sie sehen dürfen, wie ihr Bekannter seine Situation annehmen kann und trotz allem, was zusammengebrochen ist, nicht aufgibt und weiterleben will.
Lassen wir die Gelegenheit nicht verstreichen, wenn jemand aus unserer Familie oder aus dem Freundeskreis krank ist und im Spital liegt. Nehmen wir die Chance wahr, ein Werk der Barmherzigkeit zu tun. Wir selber werden beschenkt werden. Amen.
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