Nackte bekleiden
Impuls von Pater Alois Kurmann, gehalten in der Klosterkirche am 28. Februar 2016
Liebe Schwestern und Brüder
Beim Gang in die Kirche haben Sie auf dem Klosterplatz die "Pforte der Barmherzigkeit" gesehen. Sie ist im Zusammenhang mit dem "Jahr der Barmherzigkeit" gesetzt worden, das Papst Franziskus ausgerufen hat. Wir können versuchen, dieses Jahr anhand der Werke der Barmherzigkeit zu gestalten, die in der katholischen Kirche bekannt sind: sieben leibliche und sieben geistliche Werke der Barmherzigkeit.
Heute wollen wir überlegen, was das Werk der Barmherzigkeit bedeuten, und zu was es uns inspirieren kann, das überschrieben ist mit dem Titel: "Nackte bekleiden".
Nacktheit hat mehrere Bedeutungen.
Nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen in Köln in der vergangenen Silvesternacht ist am nächsten Tag die Schweizer Performance-Künstlerin Milo Moiré vor dem Kölner Dom vollkommen nackt aufgetreten und hat ein Plakat vor sich getragen auf dem stand: "Wir sind kein Freiwild, selbst wenn wir nackt sind". Dazu hat sie den Passanten gesagt. "Ich will, dass Frauen sich frei bewegen können". Nacktheit ist hier Ausdruck von starkem Selbstbewusstsein, Ausdruck dafür, dass der Körper, auch der nackte Körper, ein Recht auf Unantastbarkeit hat.
Viele Menschen lieben es, an Stränden, in Flüssen nackt zu baden oder nackt zu wandern. Sie spüren, dass der nackte Körper das Wasser, die Luft, die Sonne besonders tief und intensiv fühlen kann. Nacktheit vermittelt ein Wohlgefühl, verbunden mit einer Erfahrung von Freiheit.
Photographinnen und Photographen realisieren sogenannte Akt-Photographien, sie photographieren nackte Männer und Frauen. Nicht alle dieser Bilder sind Pornographie, sondern viele vermitteln die Schönheit, Harmonie und Kostbarkeit des menschlichen Körpers. Nacktheit vermittelt Schönheit.
Etwas anderes ist die Nacktheit, die in der Lebensbeschreibung des heiligen Martin von Tours zur Sprache kommt. Martin traf als Soldat, als er im Winter 377 auf seinem Pferd gegen Tours ritt, an der Strasse einen Bettler, der nackt war. Ohne zu zögern schnitt er mit seinem Schwert seinen Soldatenmantel entzwei und gab die eine Hälfte dem Bettler. In der Nacht erschien ihm Christus, bekleidet mit diesem Mantelstück. Im Bettler war Martin Christus begegnet, wie es das Matthäusevangelium sagt: "Alles, was ihr einem der kleinsten meiner Brüder und Schwestern tut, das habt ihr mit getan." Im Bettler, dem Martin begegnet, ist Nacktheit beschämend, entwürdigend, ein grausamer Angriff auf den Körper des Menschen.
Was kann auf dem Hintergrund dieser vier Beispiele von Nacktheit das leibliche Werk der Barmherzigkeit, das heisst "Nackte bekleiden" für uns bedeuten? In unseren Breitengraden treffen wir kaum einmal auf Menschen, die aus Armut nackt sind, die so arm sind, dass sie wirklich nichts anzuziehen haben. Aber es ist durchaus möglich, dass wir nackten Menschen begegnen: Nacktwanderer, nackt Badende in einem Bach, Kinder, die nackt spielen. Auf vielen Werbeplakaten sehen wir Frauen – mehr als Männer – die fast nackt für eine Sache werben; Journale und Fernsehen zeigen uns Models und Schönheitsköniginnen in der Schönheit ihres Körpers.
Zu welcher Haltung kann das leibliche Werk der Barmherzigkeit "Nackte bekleiden" uns bewegen? Die ehrlichste Reaktion ist Freude an der Schönheit eines menschlichen Körpers, der unverkrampfte Blick auf eine Frau, einen Mann, ein Kind, die Geschöpfe Gottes sind. Mit unseren Augen können wir die Nacktheit bekleiden, wenn wir sie mit Ehrfurcht, Respekt und Dankbarkeit als ein Wunder wahrnehmen, das nicht missbraucht, gedemütigt und mit Gewalt zerstört werden darf.
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