Obdachlose beherbergen

Impuls von Pater Patrick Weisser, gehalten in der Klosterkirche am 21. Februar 2016

Liebe Besucherinnen und Besucher der Klosterkirche, liebe Brüder und Schwestern.

In diesem Jahr der Barmherzigkeit wollen wir hier in der Fasten- und Osterzeit jeden Sonntag vor der Vesper, dem Abendgebet der Mönche, kurz innehalten und über die Barmherzigkeit nachdenken. Wir tun das anhand der so genannten "Werken der Barmherzigkeit."

Eines dieser "Werke der Barmherzigkeit" lautet: "Obdachlose beherbergen". Das ist das Thema von heute.

"Obdachlose beherbergen" – das ist von geradezu bedrückender Aktualität. Seit dem 2. Weltkrieg hat es noch nie so viele Flüchtlinge gegeben, wie sie heute den Weg nach Europa suchen. Alle europäischen Länder müssen notgedrungen solche Obdachlose beherbergen, auch die Schweiz, jeder Kanton, ja jede Gemeinde.

Wir werden von den Flüchtlingen geradezu überschwemmt, und keiner will sie haben. Wer sie dennoch aufnimmt, übt tatsächlich ein grosses Werk der Barmherzigkeit aus.

Es ist keine Überraschung: Je mehr Flüchtlinge kommen, desto weniger willkommen sind sie. Sie treffen auf Ablehnung, ja sogar auf Hass. Gewisse politische Parteien schüren das ganz bewusst und gehen damit auf Stimmenfang.

Obdachlose beherbergen, das ist nicht leicht. Und zwar nicht etwa deshalb, weil wir zuwenig Platz und Geld hätten, was auch stimmen mag, sondern das Problem liegt sehr viel tiefer.

Wir wollen diesem Problem etwas nachgehen. Das lohnt sich sehr, denn es eröffnet uns womöglich einen neuen Zugang zu Gottes Barmherzigkeit.

Stellen wir uns einmal vor, wir müssten einen Obdachlosen bei uns beherbergen. Was wäre dabei wohl das grösste Problem? Ganz einfach die Tatsache, dass dieser Obdachlose ein FREMDER ist. Alles Fremde löst in uns Menschen nämlich eines aus: Angst.

Das ist das Grundproblem bei all den Flüchtlingen, die bei uns unterkommen wollen: Sie machen uns Angst; wir fühlen uns durch sie bedroht.

Die fremden Flüchtlinge sind aber nur die Spitze des Eisberges. Das Problem liegt, wie gesagt, sehr viel tiefer. Das FREMDE, das uns Angst macht, kommt uns nämlich nicht nur im Flüchtling entgegen. Hier ist es nur besonders auffällig. Nein: Das Fremde, das uns Angst macht, begegnet uns in jedem Mitmenschen, in Gott, ja es liegt sogar in uns selbst.

Jeder Mensch, auch der uns am nächsten stehende, bleibt bei all seiner Vertrautheit immer auch ein Geheimnis. Er hat seine fremden Seiten und entspricht nie ganz der Vorstellung, die wir uns von ihm gemacht haben. Dieses FREMDE im nächsten, im uns vielleicht sehr vertrauten Mitmenschen, kann uns manchmal gehörig erschrecken.

Ähnlich ist es mit Gott. Wir Christen glauben, ihn zu kennen. Denn gemäss unserem Glauben wird allein in Jesus von Nazaret deutlich, wer Gott für uns Menschen wirklich ist: der Schöpfer, der uns leben lässt, und unser Erlöser; Barmherzigkeit, Liebe, Hingabe bis in den Tod und sogar darüber hinaus.

Trotzdem bleibt Gott für uns, wenn wir ehrlich sind, immer auch der FREMDE, der Unberechenbare. Wir machen trotz seiner Barmherzigkeit immer auch die Erfahrung seiner Abwesenheit, seines scheinbaren Desinteresses an uns und unserer Not.

Es gibt noch einen FREMDEN, der uns beängstigt. Das sind wir selber, genauer: das FREMDE im eigenen Herzen. Zwar sind wir uns selbst am nächsten und kennen uns schon seit Jahren und Jahrzehnten. Und doch können wir uns oft nicht verstehen; wir verstehen nicht, weshalb wir so und nicht anders empfinden, weshalb uns dieses oder jenes im Leben so unsäglich zu schaffen macht.

Wir alle machen immer wieder die Erfahrung, dass wir uns selber nur schwer annehmen können, dass wir hadern mit unserem Charakter, mit unserer Lebensgeschichte, mit unserer Vergangenheit.

Der französische Dichter Georges Bernanos schreibt einmal: "Es ist leichter, als man denkt, sich selber zu hassen." Und der englische Schriftsteller C.S. Lewis sagt es so: "Ich habe nicht unbedingt ein Gefühl der Zärtlichkeit oder der Zuneigung zu mir selber, und ich schätze nicht einmal immer meine eigene Gesellschaft.”
Spätestens jetzt sind wir am Punkt angelangt, wo wir erahnen, wie wichtig sie ist, die BARMHERZIGKEIT. Barmherzigkeit –zunächst einmal gegenüber uns selbst, gegenüber dem FREMDEN in uns drin.

Wie könnte das ausschauen? Vielleicht so, wie es Jörg Zink einmal formuliert in Bezug auf schwierige Gefühle, die uns zu schaffen machen. Er schreibt: "Ein Gefühl ist wie ein Kind, das in uns lebt und weint und lacht und bemerkt werden will. Man sieht ihm freundlich zu und hört, was es klagt; man leidet mit ihm, wenn es leidet.
Ein Kind hat auch Wünsche, berechtigte, gute, schöne, die nicht zu erfüllen sind. Dann nehmen wir es auf den Arm und sind mit ihm traurig. Aber wir schicken es nicht weg. Ein Kind kann verstehen, dass es nicht alles haben kann. Aber lieben muss man es." Soweit Jörg Zink.

Uns versöhnen mit dem FREMDEN, dem Schwierigen im eigenen Leben, das kann allein die Barmherzigkeit. Denn sie nimmt an; sie liebt und lässt leben. Sie versteht und richtet nicht. Gerade deshalb kann sie heilen.

Alles, was wir dagegen ablehnen und bekämpfen, bleibt FREMD und unversöhnt. Es wird nicht verdaut, nicht angenommen. Zurückgewiesenes aber lastet schwer, ein Leben lang.

Das alles gilt nicht nur für das FREMDE in uns; es gilt ebenso sehr auch für das FREMDE in Gott und für das FREMDE im Mitmenschen. Barmherzigkeit allein hilft hier weiter.

Mit seiner Menschwerdung hat Gott unser Menschsein angenommen und getragen. Er hat es nicht abgelehnt, sondern bewusst auf sich genommen. Seine Barmherzigkeit kann uns helfen, uns selbst und anderen versöhnlicher zu begegnen. Und das hat auf jeden Fall Auswirkungen – für uns und für andere.

Die Regel unseres Mönchsvaters Benedikt empfiehlt als wichtigstes – als wichtigstes! – Instrument, um im Leben Gott zu finden, folgendes: "an Gottes Barmherzigkeit niemals verzweifeln." (RB 4,74.) Wir verstehen jetzt vielleicht, weshalb Benedikt das sagt.

Wir Christen glauben: Gott ist barmherzig. Das allein lässt uns leben. Alles andere ist Nebensache.

Amen.